Liebe Gemeinde, diese Kirche ist „geostet“.
Und nein, es geht mir nicht um Ostalgie.
Nicht um uns hier im Osten und die da im Westen.
Diese Kirche ist geostet,
weil Sie alle, die Sie hier sitzen, Richtung Osten schauen.
Diejenigen, die diese Kirche erbaut haben, wollten das so.
Zur aufgehenden Sonne soll die Blickrichtung weisen,
Zur Auferstehung am Ostermorgen.
Gottesdienst dient der Orientierung – also Richtung Orient. Deshalb.
Und seitdem ich mich mit der Bibelstelle beschäftige,
die uns Matthias Pohl aus dem Buch Hiob gelesen hat,
geht mir dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf,
dieses ‚Nach Osten Schauen‘,
dieses sich Ausrichten über den Tisch des Herrn hinweg,
weit über die Christus-Statue hinaus
und dann noch durch die farbigen Fenster hindurch bis, bis… ja, bis wohin?!
Die Ukraine liegt im Osten.
Israel und Palästina liegen im Osten.
Und ich werde die Bilder nicht mehr los.
Das Drohnen-Morden und die Kriegsopfer,
den Hamas-Terror und die Hungersnot-Rache.
Den Vernichtungswillen. Das Alles-Beherrschen-Müssen.
Aber gehe ich nach Osten, so ist Gott nicht da;
gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht.
Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht;
verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht, klagt Hiob,
der in der Hiob-Dichtung wie Sie jetzt nach Osten schaut,
Ausschau hält und dennoch die Orientierung verliert,
Gott sucht und Gott nirgends findet,
obschon Gottes Hand ihn schwer drückt, sodass er seufzen muss.
Wenigstens die schwere Hand Gottes ist ihm nahe.
Luthers Übersetzung entscheidet sich für die vier Himmelsrichtungen
und betont dadurch die räumliche Dimension
einer vergeblichen Suche nach Gott.
Doch der hebräische Text bietet weitere Nuancen,
die sich in Luthers Übersetzung nicht einholen lassen.
Eine zeitliche Dimension klingt mit an:
„Osten“ bedeutet im Hebräischen auch „Vorzeit“ oder „Vergangenheit“.
Und das mit „Westen“ übersetzte Wort meint eigentlich
„die Rückseite“ und demnach „das, was hinter mir liegt“.
Und – jetzt wird es erst recht verwirrend –
Genau damit kann es auch das Künftige bezeichnen. Stellt euch also vor:
Im hebräischen Denken liegt die Vergangenheit vor Augen
und die Zukunft im Rücken. – Und das ist doch wieder logisch.
Hiobs Nachricht an uns lautet demnach:
„Ich stehe mit dem Rücken zur Zukunft.
Und Gott sitzt mir im Nacken. Nur finden lässt er sich nicht.“
Szenenwechsel!
Ein Mann sieht ein Bild. Eine Zeichnung wohl eher.
Aquarelliert. Bräunlich, gelb, orange, rötlich.
Striche darunter – seltsam schlicht gestrickt,
mal gezackt, mal gerundet:
Schriftrollen-Locken umkräuseln den viel zu großer Kopf
auf seinem viel zu kleinen Körper:
lidlos aufgerissene Augen, riesige Ohren,
spitze Zähne in einem sprechenden Mund.
Die Flug-Hände segnend oder abwehrend ausgestreckt,
ein luftiges Kleidchen umweht die dreizehigen Füße.
Ein Mann sieht ein Bild…
…und kommt von diesem Bild nicht mehr los.
Eine Figur ist darauf, die erst noch gelesen,
erst noch entziffert werden will. Hübsch ist sie nicht.
Ein Gnom, ein Troll, ein Wicht?
Nein, sagt der Künstler. Ein Engel, ein neuer Engel
und nennt seine kolorierte Zeichnung genau so:
‚Angelus novus‘ – neuer Engel.
Ein Mann kauft im Jahre 1921 dieses Bild.
Da ist der Mann gerade mal 28 Jahre alt.
1000 Mark zahlt er dem Künstler.
Er muss sein gesamtes Vermögen berappen.
Denn er ist ein mittelloser Philosoph und Kulturkritiker,
der sich mit Übersetzungen ein wenig Geld verdient.
Der Künstler der Zeichnung heißt Paul Klee.
Der Käufer ist der Berliner Walter Benjamin.
Walter Benjamin besitzt nun ein Bild,
betrachtet es täglich und beginnt, sein Dichten und Denken,
ja, seine Geschichtsphilosophie mit diesem Bild zu ergründen.
„Bilddenken“ nennt Benjamin das Denken in Bildern statt in Begriffen.
Den neuen Engel, den Angelus novus, seinen kostbarsten Besitz,
nimmt er überall mit hin, wo er wohnt, nimmt ihn gar mit nach Paris,
wohin er vor den Schergen der Nazidiktatur emigriert.
1940 stirbt Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis bei Portbou.
Den Engel hat er vielleicht noch im Gepäck.
Ein Mann sieht ein Bild, kommt davon nicht mehr los,
kauft das Bild, betrachtet es täglich, nimmt es mit
und richtet seine Gedanken daran aus – bis zuletzt.
Es sind keine schönen, eher abgrundtiefe Gedanken.
Sie sind der stinkend braunen Zeit geschuldet, in der er lebt,
in der er seiner jüdischen Herkunft wegen fliehen muss,
inhaftiert wird, erneut flieht und am Ende wahrscheinlich Suizid begeht.
Mit Entsetzen schaut er in den Kriegsjahren auf die verbrecherische Zerstörung,
die von deutschen Nazis in alle vier Himmelsrichtungen stürmt,
mit fanatischem Vernichtungswillen mordet
und eine Menschheit zugrunde richtet.
In seiner Schrift »Über den Begriff der Geschichte«
schreibt Benjamin über den Engel:
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt.
Ein Engel ist darauf dargestellt,
der aussieht als wäre er im Begriff,
sich von etwas zu entfernen worauf er starrt.
Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen
und seine Flügel sind ausgespannt.
Der Engel der Geschichte muss so aussehen.
Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.
Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, /
da sieht er eine einzige Katastrophe,
die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
und sie ihm vor die Füße schleudert.
Er möchte wohl verweilen,
die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen¬fügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her,
der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist,
dass der Engel sie nicht mehr schließen kann.
Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rü¬cken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.
Das, was wir den Fortschritt nen¬nen, ist dieser Sturm.
1 Hiob antwortete und sprach:
2 Auch heute lehnt sich meine Klage auf;
seine Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss.
3 Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden
und zu seiner Stätte kommen könnte!
4 So würde ich ihm das Recht darlegen
und meinen Mund mit Beweisen füllen
5 und erfahren die Reden, die er mir antworten,
und vernehmen, was er mir sagen würde.
6 Würde er mit großer Macht mit mir rechten?
Nein, er selbst würde achthaben auf mich.
7 Dort würde ein Redlicher mit ihm rechten,
und für immer würde ich entrinnen meinem Richter!
Hiob sieht keinen Gott in den Trümmern seines Lebens.
Hiob ist diejenige biblische Figur, die alles verloren hat,
Wohlstand, Besitz, Angestellte, Kinder, Gesundheit.
Geblieben sind ihm seine Frau und ein paar Freunde,
die ihm Angebote machen, sein Schicksal zu verstehen,
es anzunehmen, die Schuld bei sich zu suchen und Gott Gott sein zulassen.
Und ja. Sie alle reden Kapitel für Kapitel aneinander vorbei.
Seine Freunde und Hiob selbst drehen Runde um Runde,
erwägen Gottes ewige Größe und Allmacht, seine Gerechtigkeit und Gnade,
seine schöpferische Kraft und seine Vergebungsbereitschaft
und fassen doch das Leid nicht, das über einen einzelnen Menschen,
geschweige denn ein Volk, ein Land, die Welt kommen kann.
Mal leugnet Hiob eigenes Unrecht und stellt sich als leidenden Gerechten dar.
Mal behauptet er, dass es vollkommen egal ist, wie viel Schuld an ihm haftet,
denn vor Gott ist niemand aus sich selbst heraus gerecht und gut. Doch:
Liebenswert, schützenswert, bewahrenswert – das sind wir doch alle.
Also möge Gott sich doch bitte mal dazu verhalten, mal erklären,
mal in seine Karten schauen lassen, womit er seine Menschen quält.
8 Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da;
gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht.
9 Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht;
verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.
10 Er aber kennt meinen Weg gut.
Er prüfe mich, so will ich befunden werden wie das Gold.
11 Denn ich hielt meinen Fuß auf seiner Bahn
und bewahrte seinen Weg und wich nicht ab
12 und übertrat nicht das Gebot seiner Lippen
und bewahrte die Reden seines Mundes bei mir.
Wie in einem Gerichtsverfahren mit Angeklagtem und Kläger,
mit Richter und Zeuginnen, Strafverteidigern und Staatsanwältin
spielt Hiob ein ums andere Mal seine eigene und die Rolle Gottes durch,
vertauscht sie, besetzt um, besetzt neu,
inszeniert Szene für Szene in diesem Gerichtsdrama.
Mal ist Hiob Angeklagter, mal Kläger, mal Zeuge.
Mal sitzt Gott auf der Anklagebank, mal auf dem Richterstuhl
Und nur vereinzelt leuchtet ein goldener Hoffnungsschimmer auf.
Dann ist Gott sein Anwalt, sein Fürsprecher, seine Rettung in der Not.
13 Doch er hat’s beschlossen, wer will ihm wehren?
Und er macht’s, wie er will.
14 Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist,
und hat noch mehr derart im Sinn.
15 Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht,
und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.
16 Gott ist’s, der mein Herz mutlos gemacht,
und der Allmächtige, der mich erschreckt hat;
17 denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen,
und nicht, weil Dunkel mein Angesicht deckt.
Mich zu verteid′gen brauch' nicht,
keine Geschwor′nen, kein Gericht
nehmen mir meine Zweifel ab,
ob ich dem, der um Hilfe bat,
was ich ihm geben konnte, gab,
was ich für ihn tun konnte, tat.
Es sind am Ende nicht mehr die Trümmer der Welt,
die Hiob das Fürchten lehren. Gott selbst ist es, der sie zulässt.
Es sind nicht die Menschen gemachten Katastrophen,
die sie dann auch noch Fortschritt nennen oder für ihn zu zahlen bereit sind.
Gott selbst ist es, der sich dazu nicht offen verhält, bekennt, erklärt.
Heute schauen wir dem Angelus novus von Paul Klee ins Gesicht,
dem Engel der Geschichte Walter Benjamins und darin einem Hiob,
der sein Antlitz der Vergangenheit zuwendet.
Schauen ihn an und ihm über die Schultern in die Zukunft,
in die er geblasen wird.
Doch wo eine Kette von Begebenheiten vor ihm erscheint,
da sieht er eine einzige kriegerische Katastrophe,
die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
und sie ihm vor die Füße schleudert.
Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken
und das Zerschlagene zusammen¬fügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her,
der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist,
dass der Engel sie nicht mehr schließen kann.
Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rü¬cken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.
Liebe Gemeinde,
die Hiob-Dichtung der Bibel erspart uns diesen Anblick nicht.
Nicht den Rückblick in Vergangenes, Verschüttetes, Zerbrochenes.
Nicht die Suche nach Gott in den Trümmern des Lebens.
Sie schenkt sie uns! Und zusammen mit ihr
schenkt sie uns Menschen wie Paul Klee und Walter Benjamin,
und mit ihnen einen neuen Engel der Geschichte und einen Hiob,
der Gott auf keiner Seite des Buches Hiob aus der Verantwortung entlässt.
Eine gedichtete Figur, die nicht aufhört mit Gott zu rechnen,
selbst wenn die Gleichung nie aufgeht, weil sie zu viele Unbekannte hat.
Da müsste schon jemand über die Trümmer unserer Geschichte steigen,
jemand, der – wie Hiob oder Walter Benjamin –
das Leid am eigenen Leibe erfährt und daran stirbt.
Da müsste schon jemand aus der Vergangenheit ‚rüber machen‘ in eine Zukunft,
die bleischwer auf manch einem Nacken lastet,
da müsste mir schon jemand Nachricht geben von dem,
was hinter mir auf mich wartet, obschon ich glaubte, dass es vor mir liegt.
Da müsste jemand Ost und West, Süd und Nord gleichermaßen
und gemeinsam und ohne Unterschied in den Blick nehmen
und mich im einzigen Moment verorten, den ich gestalten kann,
ganz einfach weil ich in ihm lebe – jetzt, in der Gegenwart.
Trümmer vor Augen, Zukunft im Nacken,
beständig auf Gottsuche,
hungrig und durstig nach Gottes Gegenwart.
Und da kommt jemand Mitmenschliches auf mich zu,
nimmt mich in meiner Gegenwart an die Hand
und ich schaue dorthin,
wo ich Gott im Angesicht meines Nächsten finde:
in der mir fremden Person, der leidgeprüften, bedürftigen,
der schwärmenden, der tröstenden, sehnsuchtsvoll duldenden,
derjenigen, die hinschaut und tapfer aushält, was sie sieht. Amen.