Sprache auswählen

Predigten

 070724kopf

Gottesdienst zu „fides cantat“ 2024 - 500 Jahre evangelische Kirchenmusik 

Schlosskirche Lutherstadt Wittenberg am 7. Juli 2024, 6. Sonntag nach Trinitatis 

 

Aus der Tiefe 

Ps 130/ EG 299

von Pfarrer Christoph Maier

 

Liebe Gemeinde,

der Glaube singt. So heißt das Motto, mit dem das Chorprojekt „fides cantat“ 500 Jahre evangelische Kirchenmusik feiert. Im Booklet des Projekts heißt es dazu: „1524 erschienen die ersten Gesangbücher: in Nürnberg das Achtliederbuch, in Erfurt das Handbüchlein Enchiridion, und in Wittenberg veröffentlichte „Urkantor“ Johann Walter sein Geistliches Gesangbüchlein mit einer Vorrede Martin Luthers, das zum ersten Chorgesangbuch wurde, weil darin mehrstimmige Chorsätze der wichtigsten evangelischen Choräle zum ersten Mal veröffentlicht wurden.“ (https://www.fides-cantat.de/)

 Aus jenem Choralgesangbuch von Johann Walter werden wir gleich den Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Das Omsteder Vokalensemble und Kol ha Neschama Oldenburg singen den Satz von Johann Walter in einer Zusammenstellung mit Strophen nach einem Satz von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Grundlage dieses Liedes, das Martin Luther 1523 gedichtet hat, ist der 130 Psalm. Luther hat diesen Psalm geliebt. Nein, geliebt ist vielleicht das falsche Wort. Die Worte dieses Psalms der hebräischen Bibel waren der Soundtrack zu seinem eigenen Glaubenskampf. Es erkannte in diesen Worten die Angefochtenheit seiner eigenen Seele, seinen Glaubenskampf. Luther selbst war derjenige, der vor Gott und mit Gott kämpfte, um durch Buße Gottes Gnade zu gewinnen:

 „Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!“

 Es ist eine Situation, die eigentlich nur die Menschen nachvollziehen können, die selbst einmal in einer tiefen Lebenskriese waren. Dort, wo es einem den Boden unter den Füßen wegzieht, wo alles scheitert, wo nichts mehr übrigbleibt, alles brennt, alles in Flammen aufgeht, oder wie es im Psalm 130 in Anspielung auf ein anderes Element heißtet, wo einem das Wasser bis zum Hals steht, aus solchen Tiefen kommt der Schrei dieses 130ten Psalms.

 „Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn.“ 

 Martin Luther hat - wie schon der Beter des Psalms in der hebräischen Bibel – und vielleicht auch mancher und manche unter uns, erlebt, wie es ist, endlich wieder Tritt zu fassen, getragen zu sein, gehalten zu sein, von dieser unfassbaren Liebe unseres Gottes. Das Leben kehrt zurück, eine scheinbar unverdiente zweite Chance und es ist nichts „denn Gnad und Gunst“ (EG 299 Vers 2). 

Das ist die reformatorische Erfahrung, mit der Luther seinen angstbesetzten mittelalterlichen Glauben hinter sich lässt und gemeinsam mit den Wittenberger Weggefährten den Glaubensweg in die Neuzeit ebnet.

 Wir hören jetzt die Chöre und Luthers Soundtrack zu seiner reformatorischen Entdeckung.

- CHORMUSIK -

Martin Luther war wie Jakob am Jabbok ein Gottesringer. Auch der Stammvater Jakob aus der hebräischen Bibel war an einem Übergang. Ob es ein Epochenübergang war, wie bei der Wittenberger Reformation oder doch eher ein biografischer, persönlicher Übergang, sei dahingestellt. Jedenfalls erhält Jakob, nachdem er mit Gott gerungen hatte, einen neuen Namen. Fortan soll er Israel heißen. Auf diesen Gotteskämpfer Israel bezieht sich dann auch Luther in seiner Dichtung zu Psalm 130. Jakob kämpft vom Abend bis zum Morgengrauen mit Gott und Luther dichtet:

„Und ob es währt bis in die Nacht/ und wieder bis zum Morgen, 

doch soll mein Herz an Gottes Macht/ verzweifeln nicht noch sorgen. 

So tu Israels rechter Art,/ der aus dem Geist erzeuget ward, 

und seines Gotts erharre.“

Es ist wirklich ein sehr besonderes Zeichen, dass wir diesen Choral heute von einem Chor gemeinsam vorgetragen gehört haben, der aus einer jüdischen Gemeinde und einer christlichen Gemeinde kommt. Und das hier in Wittenberg, an Luthers Grab, der vor allem in seinen späten Jahren gegen Juden gehetzt hat in einer Art und Weise, die schon seine Zeitgenossen als grob, unmenschlich und lästerlich verurteilt haben. So werden den Wittenberger Gemeindeglieder die Worte „Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir“ noch aus einem anderen Kontext bekannt vorkommen. 

Sie stehen drüben an der Stadtkirche in Granit gehauen. Als laufende Umschrift zwischen vier verkippten Trittplatten, zwischen denen die Schuld und Scham über das, was Christen dem jüdischen Volk angetan haben, unaufhörlich hervorquillt, so sehr man sich auch bemüht, diese zu verdecken. Es ist uns hier eine „Stätte der Mahnung“, an der die Stadtgesellschaft den Holocaustgedenktag und den 9. November im Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 in stiller Andacht begeht. Oberhalb der Gedenkplatte mit ihrer Umschrift aus Psalm 130 ist bis heute die obszöne und gotteslästerliche Steinmetzarbeit aus dem 13. Jahrhundert zu sehen, die nach dem Tod Luthers, und in Anspielung auf seine judenfeindlichen Schriften, an der Stadtkirche neu inszeniert wurde und dabei noch zusätzlich mit einer Schmähung des unaussprechlichen Gottesnahmen versehen wurde.

Er hätte es besser wissen müssen, wo er doch die Glaubenserfahrung Israels teilte. Die Lutheraner hätten es besser wissen müssen. Unsere Großeltern hätten es besser wissen müssen. 

Es ist ein Abgrund, eine Tiefe, aus der es kein Entrinnen gibt. Vor zwei Jahren sprach der Präsident Israels, Issac Herzog, im Bundestag und erinnerte an die Worte seines Vaters, Chaim Herzog, der als britischer Soldat dabei war, als das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit wurde. Er sagte: „Kein Vergeben bringe ich und kein Vergessen. Nur die Toten haben das Recht, zu vergeben; die Lebenden haben kein Recht, zu vergessen.“

Liebe Gemeinde, in diesen Abgrund, in diese Tiefe müssen wir uns heute mitreißen lassen, wenn wir aufrichtig beieinander und miteinander bleiben wollen. 

Auch Martin Luther war schon eingebunden in eine lange Geschichte der Abgrenzung und Feindschaft, in eine Gewaltgeschichte gegen Jüdinnen und Juden, die tief in den christlichen Glauben hineingewebt ist. An drei Beispielen möchte ich das deutlich machen.

Schauen wir noch einmal auf den Choral, der uns ja heute bewegt: „So tu Israels rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward“ Ja, Luther spielt hier auf Jakob und seinen Kampf am Jabbok an, aber er bleibt in der Aneignung dieses Glaubenskampfes ganz in der altkirchlichen Tradition: Es ist das getaufte Israel, das Israel „der rechten Art, das aus dem Geist gezeuget ward“, das Luther hier besingt. Eine solche Aneignung war und ist nichts anderes als eine Enterbung Israels, eine Ersetzung des jüdischen Volkes durch die Kirche. Substitutionstheologie nennt man das. Mit dieser Substitutionstheologie wurde erst 1965 mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gebrochen. In der Evangelischen Kirche fassen Synoden sogar erst ab 1980 Beschlüsse, die sich von dieser Tradition klar distanzieren und die bleibende Erwählung Israels als Gottes Volk anerkennen.

Die Abwertung des hebräischen Teils unserer Bibel als „altes“ Testament ist auch heute vielfach unbewusst bei vielen Christinnen und Christen in den Köpfen. Die lutherische Lehre von der Entgegenstellung von Gesetz und Evangelium hat dazu viel beigetragen und trägt noch immer dazu bei. Dass jüdische Menschen das Gesetz heilig halten und es - ganz in unserem evangelischen Sinn - als Evangelium, als gute Botschaft, als Gottes Gnadengabe feiern, muss uns Christenmenschen immer wieder vor Augen gestellt werden.

Bis heute ist es in vielen lutherischen Kirchen üblich, die Einsetzungsworte zum Abendmahl mit den Worten „in der Nacht da er verraten ward“ zu benutzen. Somit wird bis heute im Zentrum des christlichen Glaubens, in der Einsetzung des Abendmahls, an den Verrat des Judas erinnert. In dieser Auslegungstradition steht auch der Vorwurf an die Juden, sie seien Gottesmörder und würden Hostien schänden. Verfolgung, Vertreibung und Schauprozesse mit Hinrichtungen jüdischer Menschen waren im Mittelalter in unserem Breiten auf diese Denkfigur gestützt. Die Übersetzung „verraten“ stammt von Martin Luther und sie verweist nicht nur theologisch in die falsche Richtung, sondern ist auch sprachlich schlichtweg falsch übersetzt, wie der Theologe Hans-Georg Link* eindrucksvoll gezeigt hat. Es geht in dieser Nacht nicht um den Verrat, sondern um die Überantwortung, um die Auslieferung Jesu, letztlich um seine Hingabe. (*vgl.: https://www.jcrelations.net/de/artikel/artikel/in-der-nacht-in-der-jesus-verraten-wurde.html )

Es gibt noch viel zu tun, um die Tiefe des Abgrundes zwischen Christen und Juden zu durchmessen. Und ich hoffe, dass wir dazu auch immer wieder mal einen Beitrag aus Wittenberg leisten können.

Doch lässt uns der Psalm und auch das Lied, das wir von unserem interreligiösen Chor gehört haben, nicht in der Tiefe. Zu verkündigen ist auch die gemeinsame Glaubenserfahrung von Juden und Christen, von Gott gehalten zu sein. Und so lassen sie mich am Schluss noch einen Gedanken formulieren, der an eine andere Tiefe anknüpft, nämlich an die Tiefe der Gottlosigkeit unserer Zeit. Die Identitätskämpfe zwischen Christen und Juden, die reformatorische Entdeckung des gnädigen Gottes, die Luther irrtümlich einer verstockten Gesetzesreligion entgegenstellte hatte, all diese Fragen spielen für die allermeisten Menschen doch überhaupt keine Rolle mehr. Nur noch knapp 13% der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt gehören einer christlichen Kirche an. Die Not der jüdischen Gemeinden überhaupt wieder Fuß zu fassen und ein Gemeindeleben zu entfalten, einen Rabbiner oder eine Rabbinerin zu finden, ist groß. Gleichzeitig erleben wir, dass Menschen entwurzelt sind, wie sie sich nach Identität und Zugehörigkeit sehnen und dafür bereit sind ihr Vertrauen in Bewegungen zu setzen, die neue Nationalismen in ganz Europa stark machen und dafür die leitenden gesellschaftlichen Institutionen verächtlich machen. Wir erleben wie das Recht des Stärkeren, die Stärke des Rechts und die Gerechtigkeit bedroht, und dass die Hoffnung auf eine Zukunft für die es sich heute lohnen würde, heute noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen, bei den jungen Menschen schwindet.

Liebe Gemeinde, es braucht uns, um in all diesen haltlosen Tiefen und in diese Abgründe hinein, das Lob Gottes zu singen. Es braucht uns, damit die Hoffnung auf ein Ziel der Geschichte in Gottes Hand nicht schwindet. Es braucht uns, und unseren Glauben daran, dass wir alle - egal wie wir glauben, egal wie wir lieben - in die Gnade Gottes als eine große Menschheitsfamilie hineingerufen sind. Es braucht ein Lied, das einmal angestimmt, auch andere einstimmen lässt: fides cantat, der Glaube singt!

Dafür danke ich IHNEN!

Amen


Aus der Tiefe

Gottesdienst mit jüdischer Beteiligung

Im Rahmen des Projektes „fides cantat“ war am 7. Juli 2024 ein interreligiöser Chor in der Schlosskirche zu Gast. Das Ohmsteder Vokalensemble und der Chor der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg, Kol ha Neschama (Stimme der Seele), musizierten gemeinsam unter der Leitung von Landeskirchenmusikdirektorin Beate Besser in der Wittenberger Schlosskirche. Der Gottesdienst stand im Zeichen der Feierlichkeiten des 500ten Jubiläumsjahres evangelischer Kirchenmusik. Es war eine eindrucksvolle Geste der Versöhnung und des christlich-jüdischen Dialogs, die Dank der klugen Literaturauswahl mit Stücken von Anton Bruckner, dem lutherischen „Urkantor“ Johann Walter aber auch von jüdischen Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Salomon Sulzer und zeitgenössischen jüdischen Komponisten eine beeindruckende Kraft entfalten konnte. Kirchenmusikdirektor i.R. Prof. Ulrich Hirtzbruch nahm mit seinen Orgelimprovisationen am Anfang und Ende diese Stimmung auf und beglückte die Gottesdienstbesucher mit seinem einfühlsamen liturgischen Spiel.

Im Zentrum des Gottesdienstes stand die Lieddichtung von Martin Luther zu Psalm 130 „Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir“. Beate Besser inszenierte dieses Stück Reformationsgeschichte als christlich-jüdischen Dialog zwischen Johann Walter und Felix Mendelssohn Bartholdy. Christoph Maier entfaltete, die Hintergründe zu diesem Lied und ging in seiner Predigt auf die schwierige und allzu oft gewaltvolle Geschichte christlicher Abgrenzung von der jüdischen Religion ein.