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210724kopf 

Lebt als Kinder des Lichts

 

(Die Sprechstunde I)

„Ich gehöre nicht hierher.“

Das ist der erste Satz, den die Studentin herausbringt.

Sie hat gegenüber ihrer Professorin Platz genommen.

Sie studiert an ihrem Lehrstuhl Sozialpsychologie 

und hat am Tag darauf ihre Präsentation im Seminar.

Zwanzig Minuten freie Rede über ihr Spezialgebiet.

Eine Leistung, die über den weiteren Verlauf ihres Studiums entscheidet.

 

„Ich gehöre nicht hierher. 

Ich breche mein Studium ab. 

Ich schaffe das nicht.“

Sie traut sich den Vortrag einfach nicht zu. 

Sie weiß, sie wird scheitern. 

Dann lieber gleich alles hinschmeißen.

„Ich breche ab.“ Nun ist es heraus. Endlich.

 

Ein wenig entspannt sich daraufhin die Studentin.

Die Professorin sieht es an ihrer Körperhaltung:

Zunächst saß die Studentin ganz vorne 

auf der Kante der Sitzfläche des Bürostuhls.

Die Beine eng übereinandergeschlagen, 

die Arme verschränkt, den Kopf gesenkt, kein Blickkontakt.

Nun, da es heraus ist, rückt sie ein wenig zurück, 

spürt die Lehne im Rücken, beide Füße finden Kontakt zum Boden.

Die Arme lösen sich voneinander, und sie hebt den Kopf ein wenig.

 

Die Studentin ahnt nicht, 

was in diesem Moment in ihrer Professorin vorgeht.

In Bruchteilen von Sekunden durchläuft diese Phasen ihres Lebens,

erinnert sich an den Unfall, den sie als High-School-Absolventin hatte,

den temporären Verlust ihrer Intelligenz und damit auch ihres Selbstwertgefühls,

die enormen Strapazen, unter denen sie viel später als alle anderen 

den Abschluss schaffte – gerade einmal so – 

und dann der Beginn ihres Universitätsstudiums:

Die Selbstzweifel, die daraus resultierende Schüchternheit,

die Unmöglichkeit, sich im Seminar zu Wort zu melden.

Nahezu unsichtbar für andere ist sie damals geworden.

 

Die Professorin betrachtet ihre Studentin: 

Ist sie ihr im Seminar jemals aufgefallen?

Hat sie sich je zu Wort gemeldet, etwas gefragt, 

mitdiskutiert, geantwortet? Sie kann sich nicht erinnern.

 

(Ein TED-Talk in aller Kürze)

Die Professorin heißt Amy Cuddy, 

sie ist eine amerikanische Sozialpsychologin.

Bekannt wurde sie 2012 durch einen Vortrag im Internet,

der inzwischen an die 72 Millionen Mal angeklickt wurde:

„Your body language may shape who you are“.

„Deine Körpersprache kann bestimmen, wer du bist.“

Unzureichend verkürzt zu: „Fake it, till you make it.”

“Täusche es vor, bis du es schaffst.“

Doch ums Vortäuschen geht es Amy Cuddy gerade nicht.

 

Sie weiß: Unsere Körperhaltung wirkt nicht nur auf andere.

Unsere Körperhaltung wirkt auch auf uns selbst zurück.

Wie wir uns bewegen, welche Posen wir einnehmen,

mit welcher Körperspannung wir auftreten,

all das formt nicht nur unseren Eindruck bei anderen.

All das formt auch unsere Wahrnehmung von uns selbst.

 

Amy Cuddy sagt: Deine Körpersprache kann bestimmen, wer du bist.

Dazu hat sie geforscht. Und noch ein wenig darüber hinaus.

Doch niemand soll sich verbiegen. 

Etwas vortäuschen, das total wesensfremd wäre.

Im Gegenteil! Alle hilfreichen, stärkenden, 

alle Mut machenden – ich sage: segensreichen – Potentiale 

sind bereits in dir angelegt. Sie gilt es freizulassen und zu aktivieren.

Du musst nicht jemand anderes werden. 

Es ist noch viel besser: Doch du kannst werden, wer du bist.

 

Die Professorin übt das mit ihren Studierenden,

indem diese so genannte „High-Power-Posen“ einnehmen,

ihrem Körper mehr Platz geben, mehr Weite und Präsenz gönnen.

Nein, nicht als gockelhafte Siegerpose vor anderen.

Zwei Minuten für sich, gewissermaßen im stillen Kämmerlein.

Allein das schüttet schon die richtigen Hormone aus, 

die uns für unseren Auftritt vor anderen befreien können.

Nicht als Heldinnen, nicht Sieger über andere.

Eher als Gewinnerinnen über unsere eigenen Selbstzweifel.

Das schnelle Wegducken. Das sich selbst klein machen.

 

(Der pseudepigraphe Loser) 

„Ich schaffe das nicht. 

Am besten: Ich breche ab.

Das bringt ja alles eh nichts.“

 

Die uns unbekannte Person, die Ende des ersten Jahrhunderts 

einen Rundbrief mit verschwurbelten Endlossätzen 

an Christenmenschen in Kleinasien schreibt,

den wir Epheserbrief nennen, plagen ähnliche Selbstzweifel.

 

Um sich selbst nicht vor anderen 

ausweisen und produzieren zu müssen,

versteckt sie ihre Identität hinter dem Apostel Paulus,

leiht sich durch den Gebrauch seines Namens Autorität, 

ja, muss sie sich leihen, weil sie sich selbst keine zutraut.

 

Dennoch versucht sie gewissermaßen aus der Deckung heraus, 

die vielen auseinanderstrebenden Gemeinden 

im Glauben an Jesus Christus miteinander zu vereinen, 

will dass sie vereint und erkennbar handeln, 

in der Öffentlichkeit wahrnehmbar und zum Wohle aller Menschen.

Als selbstbewusste Gemeinden. Offen für die vielen.

Integrierend. Gastfrei. Vernetzt. Einander aufrichtend.

 

Stattdessen konkurrieren sie miteinander.

Christinnen jüdischer Herkunft und solche, 

die nicht erst dem Judentum beitreten wollen,

um zur christlichen Gemeinde zu gehören.

Die einen finden in der Taufe einen direkten Zugang zu Christus

und beurteilten die anderen als ängstlich, rückständig, glaubensschwach.

 

Ein Streit ist entbrannt, der erbittert geführt wird.

Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit bleiben auf der Strecke

und werden einander aberkannt.

 

Der Epheserbrief propagiert auf scheinbar verlorenem Posten:

Alle Gemeindeglieder sind heilig, alle seid ihr Kinder des Lichts,

egal, welchen Hintergrund, egal welche Herkunft ihr habt.

Also wandelt. Wandelt euch. Und geht. Aufeinander zu.

Denn in Christus sind alle Gegensätze aufgehoben.

 

Ein früher Rundbrief malt uns das Bild von den Kindern des Lichts,

denen die Früchte des Lichts in die Hände fallen.

Er zieht sie aus der Finsternis kleinlicher Streitereien heraus 

zurück in das Licht der Welt, das er Christus nennt.

 

Und dieser Brief nimmt Erkenntnisse vorweg,

die Forscherinnen wie Amy Cuddy zu Beginn des 21. Jahrhunderts 

neu entdecken, indem sie erkennen: Werdet, was ihr längst seid.

Schließt die in euch verborgenen, in euch verschlossenen Anlagen auf,

befreit die verschütteten Gaben aus den Kammern eurer Seelen…

 

(Epheser 5,8b-14 – die Lesung)

…und wandelt als Kinder des Lichts; 

die Frucht des Lichts ist lauter Güte 

und Gerechtigkeit und Wahrheit. 

Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, 

und habt nicht Gemeinschaft 

mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; 

deckt sie vielmehr auf. 

Denn was von ihnen heimlich getan wird, 

davon auch nur zu reden ist schändlich. 

Das alles aber wird offenbar, 

wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; 

denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. 

Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, 

und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.

 

(Lichtbaumkinder – ein Intermezzo)

Ich stelle mir vor, liebe Gemeinde, 

dass es ihn gibt, einen Baum aus Licht, 

einen, mit Früchten des Lichts.

Seine lichten Wurzeln ziehen das Licht 

wie schillerndes Wasser durch den strahlenden Stamm.

Ganz unten glüht es noch mild golden und voller Wärme,

doch verzweigen sich rasch die Äste bis in die glänzende Krone

und leiten das Licht wie in tausenden hell scheinenden Adern

hinein in die abertausend hell leuchtenden Blätter und Blüten.

Sie versprühen das Licht weit über das Land.

Sie färben es silberhell, goldgelb, lichtweiß.

 

Unter dem Baum aus Licht, in seinem lichten Schatten, 

leben und spielen Kinder, die Kinder des Lichts. Lichtbaumkinder. 

Im Frühling stecken sie sich seine Blüten ins Haar 

und später im Jahr sammeln sie die Früchte des Baumes.

Und die Früchte des Lichts fallen reif in ihre ausgespannten Netze:

Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Oder sie werden von zarter Hand gepflückt, wenn es an der Zeit ist:

goldgelbe Güte, die alles Gemeine in ein milderes Licht taucht.

Helllichte Gerechtigkeit, die Verborgenes offenbart.

Strahlende Wahrheit, die alle Täuschung aufhebt.

 

 

Die Kinder des Lichts prüfen jede einzelne Frucht.

Sie halten sie nebeneinander. Sie halten sie ins Licht:

die Güte und die Gerechtigkeit,

die Gerechtigkeit und die Wahrheit,

die Wahrheit und die Güte.

 

Erfrischend und nahrhaft sind sie. Sie beleben und stärken.

Na ja, auf dem Markt kommen sie nicht immer gut an.

Die Kinder des Lichtes haben sich einen Sport daraus gemacht 

und laufen unermüdlich durch die Welt und bieten sie an.

Und wer von ihnen kostet, 

der wird den Geschmack nicht mehr los 

und Sehnsucht breitet sich aus.

 

Gut schmecken sie in der Vielfalt und im Miteinander. 

Güte ohne Gerechtigkeit ist viel zu süß,

Gerechtigkeit ohne Güte dagegen zu hart und sauer,

Wahrheit ohne Güte ist kaum zum Aushalten

und Gerechtigkeit ohne Wahrheit geht gar nicht.

 

(Die Sprechstunde II)

„Ich breche mein Studium ab. 

Ich gehöre nicht hierher. Ich schaffe das nicht.“

Und nun erinnert sich Amy Cuddy an das, 

was ihre Professorin ihr als Studentin einst sagte,

als sie zu ihr kam mit ihrer irren Furcht, vor den anderen zu versagen. 

 

Nun schaut sie ihre Studentin an und sagt ihr dieselben Worte:

„Nein! Nichts dergleichen werden Sie tun.

Denn genau Sie gehören genau hierher.

Sie werden morgen vor dem Seminar stehen 

und den besten Vortrag halten, den es je gegeben hat.

Denn Sie werden das tun, was längst in Ihnen steckt,

selbst wenn Sie nur so tun, als würde es in Ihnen stecken.

Und jetzt gehen Sie nach Hause und üben das ‚so tun als ob‘.“

 

(Erlöster müssten die Christen aussehen…)

„Ich gehöre nicht zu den Kindern des Lichts.

An mir ist nichts Strahlendes. Häufig nicht mal ein Glimmen.

Ich schaffe es nicht, so glaubensgewiss zu leben, 

wie es sich für Kinder des Lichts gehört.

Ich sehe weder erlöster aus als andere, noch tue ich bessere Taten 

und habe nicht die geringste Ahnung, was Gott mit mir vorhat. 

Wahrscheinlich bin ich religiös unmusikalisch.“

Nun sitzen wir als einzelne oder als ganze Gemeinde 

in einer biblischen Sprechstunde – weit vorne auf dem Stuhl,

die Beine eng übereinander geschlagen, 

die Arme verschränkt, den Kopf gesenkt.

Und ein Christenmensch sieht uns über Jahrhunderte hinweg an, 

erinnert sich an die desolate Gemeindesituation zu seiner Zeit 

und beginnt, zu uns zu sprechen:

 

„Nein! Nichts dergleichen werdet ihr tun.

Denn genau ihr gehört genau hierher.

Und ihr werdet morgen wieder eurer Wege gehen 

und mehr strahlen, als je jemand gestrahlt hat.

Denn ihr werdet tun, was längst in euch steckt,

selbst wenn ihr nur so tut, als wäre das so.

Lebt als Kinder des Lichts, selbst dann,

wenn es sich für euch nicht so anfühlt.

Selbst dann, wenn euch die Zweifel überfallen

und alle anderen erlöster aussehen als ihr.

Ein wenig gelöster sein, reicht für den Anfang.

Zum Beispiel könntet ihr mit eurer Körperhaltung beginnen.

Richtet euch auf. Jede für sich. Und dann richtet einander auf.“

 

Liebe Gemeinde, wir müssen uns dafür nicht verbiegen, 

nichts vortäuschen, das uns wesensfremd wäre.

Im Gegenteil! Alle hilfreichen, stärkenden Kräfte, 

alle Mut machenden, segensreichen Potentiale 

hat Gott längst in uns angelegt. 

Indem wir als Kinder des Lichts erste Schritte wagen,

werden wir schlicht das, was wir vor Gott längst sind, 

leben in der Nachfolge Christi, und vermitteln der Welt etwas 

von Gottes Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit.

Und wer erst einmal von den Früchten des Lichts gekostet hat, 

der wird den Geschmack nicht mehr los, 

und Sehnsucht breitet sich aus. Amen.