
Gibt es helle und dunkle Stellen in der Schrift?
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Liebe Gemeinde!
Wie liest man am besten in der Bibel – und wie versteht man sie am ehesten? Wo fängt man an zu lesen, und wie erschließt man sich, was sich einem nicht selbst unmittelbar erschließt. Nun ja: Eine Möglichkeit haben Sie gewählt – eine besonders schöne Möglichkeit: Sie haben sich mehrere biblische Texte vorlesen lassen. Sie haben sich mehrere Texte vorlesen lassen, die aufgrund ihrer Inhalte einmal ausgewählt wurden, die einander zugeordnet wurden und die ihren wiederkehrenden Ort im Kirchenjahr gefunden haben. Und nun freuen Sie sich auf eine Erklärung, eine Auslegung – die im besten Falle beides ist: erhellend und erbauend.
Aber was für einen Text haben wir eben gehört? Einen, der in die Adventszeit passt? Der den besinnlichen Kerzenschein der zweiten Adventskerze noch erhellt – oder nicht eher etwas verdunkelt? Ist es ein Text, der zu dem Duft gebrannter Mandeln passt und einen möglichen Besuch des Weihnachts- oder eines Aventsmarktes atmosphärisch vorbereitet? Unser Text ruft uns zu: All dies wird vergehen! „Himmel und Erde werden vergehen.“ „Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde.“ „Die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdenn werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit.“
Was uns hier angekündigt wird, ist nicht die Geburt des Herren. Es ist keine Vorbereitung auf das Kind in der Krippe, von dem wir im Weihnachtsgottesdienst, in gut zwei Wochen, ebenfalls nach dem Lukasevangelium hören werden: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Hier hören wir von der Wiederkehr des Herrn. Die Ankunft, die uns hier verheißen wird, ist die Ankunft des „Menschensohnes in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit“. Geschildert wird uns der Beginn der Endzeit. Hingewiesen werden wir auf die Zeichen der Endzeit, auf Naturkatastrophen, besondere himmlische Erscheinungen, ja: auf „Kriege und Unruhen“. Etwas früher im Lukasevangelium heißt es: „Ein Volk wird sich erheben gegen das andere, und es werden geschehen große Erdbeben und hier und dort Hungersnöte und Seuchen; auch werden Schrecknisse und vom Himmel her große Zeichen geschehen.“
Vielleicht geht es Ihnen bei diesen Passagen wie mir, als ich sie als Jugendlicher las und zutiefst erschrak. Wird uns hier möglicherweise geschildert, was wir in unserer Gegenwart erleben? Sind die Zeichen unserer Zeit die Zeichen der Endzeit? Wie können wir Aufschluss gewinnen? Gibt es in der Heiligen Schrift vielleicht noch weitere Passagen, die uns genau diese Entwicklungen in größerer Ausführlichkeit beschreiben? Suchen wir nach dem Kommen des Menschensohnes in Wolken, finden wir zwei Abschnitte. Beide zeigen zukünftige Entwicklungen an. Zunächst träumt, vor Christi Geburt, ein Mann namens Daniel von vier Tieren, die aus dem Meer steigen. Der Traum endet mit der folgenden Vision: „Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.“ Und sodann ist es das letzte Buch unserer Bibel, die Offenbarung des Johannes, die uns zeigt, wie nach Christus das Kommen des Menschensohnes erwartet werden konnte: „Und ich sah, und siehe, eine weiße Wolke. Und auf der Wolke saß einer, der gleich war einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel. Und ein andrer Engel kam aus dem Tempel und rief dem, der auf der Wolke saß, mit großer Stimme zu: Setze deine Sichel an und ernte; denn die Zeit zu ernten ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist reif geworden. Und der auf der Wolke saß, setzte seine Sichel an die Erde und die Erde wurde abgeerntet.“ Hier, in der Offenbarung des Johannes, ist die Wiederkehr des Menschensohnes ein Moment der Scheidung, der Trennung, des Gerichts über diejenigen, die zu diesem Zeitpunkt auf der Erde leben. Erst später, so weiß die Offenbarung, nach tausend Jahren, wird in einem weiteren Gericht auch über die bereits Verstorbenen geurteilt. Über sie heißt es: „und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken.“
Unser Predigttext, der des zweiten Advents, handelt vom zweiten Advent, der zweiten Ankunft des Herrn. Zunächst mochte er uns dunkel erschienen; im Lichte zweier weiterer Texte steht uns zumindest das Thema klarer vor Augen. Zugleich sind wir bei einer schroffen Alternative gelandet: Entweder werden unsere Werke uns im Gericht retten – oder sie werden uns zur Verurteilung gereichen.
An diesem Punkt möchte mit Ihnen innehalten und nun überlegen, wie wir in unserer Bibellektüre bisher vorgegangen sind. Wir haben einen Text gelesen; wir haben nach thematischen Entsprechungen gesucht – und wir haben die Texte einander ergänzen lassen. Die Methode, die wir angewandt haben, wurde im Jahr 1516 interessierten Lesenden der Heiligen Schrift an einer ganz zentralen Stelle empfohlen. Erasmus von Rotterdam, der große Gelehrte, der führende Humanist seiner Zeit, ließ 1516 das Neue Testament in der griechischen Ursprache druckten. Es ist der Text, nach dem Luther fünf Jahr später das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen begann. 1516 hatte Erasmus aber nicht nur das griechische Neue Testament veröffentlicht. Er verband damit er eine kleine Leseanleitung, eine Methodologie, den „méthodus“. Darin erklärt er, wie man sich die Bibel im Ganzen am besten erschließt. Die Kurzusammenfassung lautet: durch eine gezielte Verbindung thematisch verwandter Stellen. So wie wir gerade zum Thema „zweite Ankunft des Herren“ nach den Textstellen gesucht haben, so empfiehlt Erasmus, eine Sammlung von etwa zwei- bis dreihundert Stichworten anlegen. Und zu jedem einzelnen davon stelle man die biblischen Passagen zusammen, die sich dann gegenseitig erhellen. Nach dieser „hervorragenden“ Methode, so empfiehlt uns Erasmus, habe „nicht nur Origenes, sondern auch Augustinus bei der Interpretation der heiligen Schriften“ gearbeitet. Mit ihr gelinge es uns, „eine dunkle Stelle aus dem Vergleich mit anderen klar[zu]machen“. Ebenfalls 1516, im Oktober, erkundigt sich hier in Wittenberg ein hoher Beamter des Kurfürsten, Spalatin, bei einem Theologieprofessor, bei Luther, was von Erasmus zu halten sei. Luther antwortete sehr direkt: Erasmus sei ein hochgelehrter Mann; er habe nur zwei Mängel: er habe Paulus nicht verstanden, und er habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, Augustin zu lesen. Und beides hängt für Luther zusammen, wie er Spalatin schreibt: „Wenn [… Erasmus] aber nur den Augustinus lesen würde, […] so würde er vielleicht nicht nur den Apostel richtig verstehen, sondern auch dafür halten, daß Augustinus einer höheren Werthschätzung würdig sei, als er bisher geglaubt hat.“ Besonders eines habe Erasmus nicht verstanden: „Denn nicht […] werden wir gerecht dadurch, daß wir gerecht handeln, […] sondern […] durch Gerechtwerden und Gerechtsein tun wir gerechte Werke. Erst muß die Person geändert werden, danach die Werke.“ Was wir hier biblisch heraushören können, ist das dritte Kapitel aus dem Römerbrief, in dem Paulus eröffnet: „Nun ist aber die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ohne Zutun des Gesetzes offenbar worden“; wir werden „ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ – aus seiner Gnade, im Griechischen steht hier δωρεάν: Geschenkt! Umsonst! Ohne jede Eigenleistung. An damit sind wir bei dem Herzstück von Paulus‘ befreiender Botschaft: Nicht unsere Leistung macht uns dem, was wir vor Gott und für unsere Mitmenschen sind. Alles, was wir haben und sind, verdanken wir göttlichen Gaben, göttlichen Geschenken. Unser Leben im Geist dieses Geschenkes ist ein Leben in Dankbarkeit, in Liebe, in Zugewandtheit, in Milde, in gegenseitiger Vergebung und in gegenseitigem Zuvorkommen. Es ist nicht das Leben einer Leistungsgesellschaft, in der die Privilegierten sagen: Es war viel harte Arbeit – womit sie zum Ausdruck bringen: Wir haben es verdient. Mit einem gewissen Anteil der Bescheidenheit, wird bisweilen hinzufügen: Etwas Glück hat auch dazugehört. Selbst bei solchen Zusätzen bleibt die Grundaussage: Ich habe es verdient. Bei Paulus geht es nicht um ein Verdienst. Es geht um ein unverdientes Geschenk. Und eben dies habe sich Erasmus nicht erschlossen, so mochte Luther schon 1516 geurteilt haben.
Wie ging es weiter, zwischen Erasmus und Luther, zwischen Luther und Erasmus? Wir sind alle einigermaßen über die Hauptereignisse der Reformation orientiert. Wobei, hier in Wittenberg werde ich reformationsgeschichtliche Kenntnisse voraussetzen dürfen, die weit über dem Durchschnitt liegen. Wir alle wissen, dass Luther 1522 seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments vorlegte; und in seinen Vorreden formulierte er Leseanweisungen. Seine Empfehlung war: Halte Dich an die Reden, an die Predigten, an Worte Christi – und nicht an die Schilderung seiner Taten und Werke. Aus diesem Grund empfahl er nicht etwa Matthäus, Markus und Lukas – sondern das Johannesevangelium als „das einzige, schöne und rechte Hauptevangelium.“ Dieses und die Briefe von Paulus und Petrus „sind die Bücher, die dir Christus zeigen und dich alles lehren, was dir zu wissen not und selig ist“. Über den Römerbrief erklärt er, dass sich in dessen Licht die ganze übrige Schrift erschließe: „Er ist bisher […] übel verfinstert worden, wo er doch an sich ein helles Licht darstellt, völlig ausreichend, die ganz Heilige Schrift zu erleuchten.“ Im selben Jahr 1522 setzte er auch sein Vorhaben fort, Musterpredigten zu den Sonntagsevangelien und Epistel verfügbar zu machen. Auch zu unserem Predigttext bietet er einen Vorschlag, der sehr ausführlich ist; Luther legt den Text Vers für Vers aus – und schließt mit einem Vorschlag für einen übertragenen Sinngehalt. So deutet er den Feigenbaum, der austreibt und den Sommer, der die Ernte und das Ende ankündigt, als die Heilige Schrift, deren Verständnis nun endlich Früchte trägt. Die daraus erwachsende Ankunft des Herren vollziehe sich täglich: „Er kommt auch noch täglich durch das Evangelium geistlich in die gläubigen Herzen, was auch niemand sieht.“ Die Wiederkehr des Herren wird bei Lukas als „Erlösung“ geschildert – und daran schließt auch Luther an: „Wahrhaftige Christen aber stecken in großen Anfechtungen und Verfolgungen von Sünden und allerlei Übel, so daß ihnen dies Leben sauer und häßlich wird. Darum warten sie und verlangen und bitten, erlöst zu werden von Sünden und allem Übel, wie denn auch das Vaterunser sagt: dein Reich komme und erlöse uns vom Übel.“
Zeitgleich dazu legt auch Erasmus unseren Text aus. 1523 erschien dessen lateinische Paraphrase. Er möchte die Schrecken der Endzeit dadurch mildern, dass er die Wachsamen ermuntert, auf den Tag der Wiederkunft möglichst vorbereitet zu sein. Und selbst, wenn wir diesen Tag nicht erlebten, gelte es doch stets, Gutes zu tun. Jeder Tag könne unser letzter Tag sein. Darin sollten wir dem Beispiel Christi folgen. Ein weiteres Jahr später, 1524, suchte Erasmus die öffentliche Auseinandersetzung mit Luther. Als Thema wählte er die „Freiheit des Willens“, und letztlich aus ihr leitete er ab, warum manche Menschen den Weg zum Heil fänden – und manche nicht. Es ist zumindest in Teilen die eigene Verantwortung des Menschen, sich dem Heilsangebot zu öffnen – sich darauf vorzubereiten, es anzunehmen und es bis zuletzt zu bewahren. Gottes Gnade spielt eine Rolle, eine sehr große Rolle sogar, aber der freie Wille des Menschen ist Teil der Entwicklung: „Ich billige die Meinung jener, die dem freien Willen einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste.“ Zugleich erneuert er, was er schon 1516 erklärt hatte: Die Schrift erhellt nicht alles; manches in der Schrift bleibt dunkel: „und wenn wir einzudringen versuchen, tappen wir desto mehr in der Finsternis, je tiefer wir eingedrungen sind, damit wir auf diese Weise einerseits die unerforschliche Majestät der göttlichen Weisheit, andererseits die Schwäche des menschlichen Geistes erkennen. […] Sobald man an diesen Punkt gekommen ist, dürfte es meiner Meinung nach besonnener und frömmer sein, mit Paulus auszurufen: ,O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege!‘“
Vor genau 500 Jahren, im Dezember 1525, veröffentlichte Luther seine Gegenschrift „Über den unfreien, den geknechteten Willen“. Ganz am Ende nimmt Luther auf das Paulus-Wort Bezug, auf das sich Erasmus eben bezogen hatte, und betont, dass auch das größte Werk des Menschen zu dem kleinsten Werk Gottes nichts ist: „Wie auch Paulus ausruft, wenn er sagt: ,O welche Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, wie unbegreiflich sind seine Urteile und unerforschlich seine Wege.‘ Sie wären aber nicht unbegreiflich, wenn wir in jeder Hinsicht im Stande wären zu erfassen, warum sie gerecht sind. Was ist der Mensch im Vergleich zu Gott? Wie viel ist es, was unsere Macht vermag im Vergleich zu seiner Macht? Was ist unsere Stärke im Vergleich zu seinen Kräften? Was ist unser Wissen im Vergleich zu seiner Weisheit? Was unser Wesen im Vergleich zu seinem Wesen? Kurzum: Was ist all das Unsere im Vergleich zu all dem Seinen? Wenn wir also […] bekennen, menschliche Macht, Stärke, Weisheit, Wissen, Wesen und alles Unsere seien überhaupt nichts im Vergleich zu göttlicher Macht, Stärke, Weisheit, Wissen und Wesen – was soll dann diese unsere Verkehrtheit, dass wir die alleinige Gerechtigkeit und das Urteil Gottes herumzerren? […] Waren sagen […] wir nicht auch hier: Unser Urteil ist nichts, wenn es mit dem göttlichen Urteil verglichen wird?“ Als die entscheidende Zusage Gottes, das Versprechen Christi hebt Luther aus der biblischen Überlieferung die Erlösung hervor, das Leben, den Frieden, das Heil.
Und dies ist die Botschaft unseres zweiten Advents: In das, was uns belastet, betrübt und schmerzt, verspricht Gott uns „Erlösung“. So, wie wir sind, wird uns zugesagt: „seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“.
Und der Friede des Herren, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
