Predigt Reformationstag 2024 in Wittenberg
Predigttext: Römer 3, 21-28
21 Aber jetzt ist Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden, und zwar unabhängig vom Gesetz. Das bezeugen das Gesetz und die Propheten. 22 Es ist der Glaube an Jesus Christus, der uns die Gerechtigkeit Gottes zugänglich macht. Der Weg zu ihr steht allen Glaubenden offen. Denn in dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied: 23 Alle sind schuldig geworden und haben keinen Anteil mehr an der Herrlichkeit Gottes. 24 Sie verdanken es also allein seiner Gnade, dass sie von Gott als gerecht angenommen werden. Er schenkt es ihnen aufgrund der Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. 25 Durch dessen Blut hat Gott ihn als Zeichen der endgültigen Versöhnung eingesetzt. Und durch den Glauben erhalten wir Anteil daran. So hat Gott seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt. Lange hat er die Verfehlungen ungestraft gelassen, die früher begangen wurden. 26 Gott hat sie in Geduld ertragen. Doch jetzt, zu diesem besonderen Zeitpunkt, will er beweisen, dass er wirklich gerecht ist. Ja, er ist gerecht. Und er nimmt diejenigen als gerecht an, die aus dem Glauben an Jesus leben. 27 Gibt es irgendeinen Grund, auf etwas stolz zu sein? Nein, das ist ausgeschlossen! Welches Gesetz schließt das aus? Etwa das Gesetz der Werke? Nein, sondern das Gesetz des Glaubens! 28 Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt.
Wo bleibt die Ungnade?
In der Kirche reden wir oft von Gnade. Gerade am Reformationstag. Und dann noch an diesem Ort hier. Paulus eben, die Menschen „verdanken es alles seiner“ Gottes „Gnade“. Reformationstag, unser Gnade-allein-Tag.
Aber ich frag mich gerade viel öfter: Was ist eigentlich mit der Ungnade?
Gibt es Situationen, in denen uns das Verlangen packt, ungnädig zu sein? Unrecht nicht zu vergeben, sondern es klar und scharf beim Namen zu nennen?
Gibt es Situationen, in denen Ungnade das einzig richtig ist, Ungnade allein?
Ungnade angesichts der Spannungen dieser Welt
Bei mir ist das jedenfalls so: Immer wieder gibt es Momente, in denen ich nicht gnädig sein will. Es einfach auch nicht kann.
Erst vor wenigen Tagen starre ich mehr oder weniger gedankenlos auf mein Handy. Wische mal wieder über die Nachrichten-App. Da springt mir ins Auge: „Bootsunglück – Vier Migranten vor griechischer Insel Kos ums Leben gekommen“. 2 Frauen, 2 Säuglinge.
Ich kann nicht einfach weiterscrollen.
Erst vor wenigen Wochen bin ich an die EU-Außengrenze nach Griechenland gereist. An der Küste stand ich vor Resten von Schlauchbooten. Ich sah Kinderkleidung im Sand. Warum ertrinken Menschen im Mittelmeer? Warum gibt es für sie keine sicheren, legalen Fluchtwege? Warum überlassen wir Menschen diesem grausamen Schicksal? Ich verstehe das nicht.
Und ich will ungnädig sein. Es ist eigentlich noch stärker: Ich fühl mich verpflichtet, ungnädig zu sein. Mit dieser Welt, mit ihren Verantwortungsträgern, mit mir selbst. Weil eine klare Kante, ja Ungnade, als die einzig ehrliche und richtige Reaktion erscheint.
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Ich will die Dinge nicht einfach so akzeptieren. Ich will ungnädig sein. Kann diese Ungnade, die ich empfinde, Teil meines Glaubens sein?
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Kreuz, Gerechtigkeit und billige Gnade?
25 Ihn Christi hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne[3] in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden
25 Durch Christi Blut hat Gott ihn als Zeichen der endgültigen Versöhnung eingesetzt. Und durch den Glauben erhalten wir Anteil daran. So hat Gott seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt. Lange hat er die Verfehlungen ungestraft gelassen, die früher begangen wurden.
Das Kreuz – das ist der Ort, an dem Gott sich selbst dem Unrecht dieser Welt aussetzt. Gott macht sich im Leben von Jesus berührbar. Er macht ernst mit dem Menschsein, koste es was es wollte. Gott stirbt durch die Gewalt von Menschen, geht in den Tod. Durch gnadenlose menschliche Gewalt, die nichtmal vor Gott halt. Aber Jesus ersteht auf von den Toten.
Für mich ist das unergründlich, nicht fassbar. Durch meinen Glauben erhalte ich Anteil daran – sagt Paulus. Ich habe Anteil an Gottes Gerechtigkeit und Gnade. Bin ich also gerecht? Sind wir gerecht? Dürfen wir gnädig mit uns selbst sein? Darf ich gnädig mit mir und anderen sein?
Auf der Reise nach Kos besuchten wir ein großes Lager für geflüchtete Menschen. Fernab der großen Hotels mit tausenden Touristen liegt es inmitten der griechischen Insel. Das Lager ist dreifach mit Stacheldraht eingezäunt. Es gleicht mehr einem Gefängnis als einer Einrichtung für schutzsuchende Menschen. Das Gelände wirkt lebensfeindlich: Asphalt, Beton, Container, streunende Katzen und brennende Sonne. Kein Baum, kein Strauch. Die Menschen drängen sich in kleinen Schattenstreifen, die zwischen den Containern entstehen. Sie warten und warten: auf ihre Registrierung, ihre Asylanhörung, ihre Ausweisdokumente: Manche sind inhaftiert, weil sie hier nicht bleiben sollen. Im staubigen Wald rund um das Lager leben noch hunderte weitere Menschen – ohne Dokumente oder Geld, um die Insel verlassen zu können.
Diese harten Bilder im Kopf frag ich noch einmal: Dürfen wir gnädig mit uns selbst sein? Darf ich gnädig mit mir und anderen sein?
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Mir geht das zu schnell.
Vor lauter Gnade mit uns selbst, werden wir zu gnädig mit dieser kaputten, zerbrechlichen, ungerechten Welt…
Mir geht das zu schnell.
Dieses Reden von der Gnade – der vollkommenen, der himmlischen und der unverdient – wir sind gerechtfertigt und gerecht. Wie denn und wo denn?
Mir geht das zu schnell.
Soll ich alles einfach hinnehmen? Die Welt ist wie sie ist. Die Kirche ist wie sie ist. Wen muss das kümmern? Wir glauben doch. Wir sind doch gerechtfertigt. Soll ich gnädig sein mit den Akteur*innen der europäischen Lagerkultur und so gnadenlos und ungerecht den hilfesuchenden im Lager? Ist dann halt so?
Mir geht das zu schnell.
Wenn Gott zu jedem einzelnen Menschen unbedingt Ja sagt, sie und ihn liebevoll ansieht, ernst nimmt– sollten und müssen wir dann nicht alles dafür tun, unsererseits jeden einzelnen Menschen ernst zu nehmen, sie und ihn nicht im Stich zu lassen, und wenn noch so viel dafür zu sprechen scheint, dass jetzt aber der falsche Ort oder der falsche Zeitpunkt dafür sind?
Ungnade als Antrieb für Veränderung
25 Ihn Christi hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne[3] in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden 26 in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.
25 Durch Christi Blut hat Gott ihn als Zeichen der endgültigen Versöhnung eingesetzt. Und durch den Glauben erhalten wir Anteil daran. So hat Gott seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt. Lange hat er die Verfehlungen ungestraft gelassen, die früher begangen wurden. 26 Gott hat sie in Geduld ertragen.
Doch jetzt, zu diesem besonderen Zeitpunkt, will er beweisen, dass er wirklich gerecht ist. Ja, er ist gerecht. Und er nimmt diejenigen als gerecht an, die aus dem Glauben an Jesus leben.
Glaube: Mein Glaube macht, dass ich Sehnsucht habe. Ich hab Sehnsucht nach dem Reich Gottes. Ich hab Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Sehnsucht das Gerechtigkeit Wirklichkeit wird. Humane Aufnahmestationen an den Grenzen und in den Zentren von Europa, statt Stacheldrahtlager. Ein gastfreundliches Dach über dem Kopf, Austausch, gemeinsame Suche nach Lebensperspektiven für die, die kommen. Ein gutes Leben für Menschen, die alle frei und gleich geboren sind.
Glaube: Mein Glaube fordert mich auf: Wenn ich Unrecht spüre, ja, wenn Ungerechtigkeiten greifbar werden, dann fordert mich mein Glaube auf, ungnädig zu sein – ungnädig aus Liebe zur Wahrheit. Meine Ungnade ist kein Hass. Meine Ungnade signalisiert mir selbst: Ich habe eine innere Klarheit darüber, dass etwas falsch läuft. Ich fühle: ich muss umkehren. Ich trage mit Verantwortung.
Im Lager auf Kos sprachen wir mit vielen Zuständigen . Es zeigte sich: niemand fühlt sich verantwortlich für die Menschen. Niemand will sich überhaupt für sie verantwortlich fühlen. Nur Ausreden: Fehlende medizinische Versorgung? Das liegt in der Zuständigkeit einer anderen Behörde. Menschen, die ohne Grund in Haft sind, weil sie eh nicht abgeschoben werden können? Das liegt in der Verantwortung der Politik. Nach den Gesprächen liefen wir aus dem Lager heraus. Am Horizont steigt kilometerweit Rauch auf. Unsere Handys vibrierten. Die Eilmeldung sagte: Waldbrand. Mehrere Quadratkilometer auf der Insel brannten - die Hitze und Dürre machte sich bemerkbar. Über den Tag meldeten sich bei mir Menschen per Messenger: "Seid ihr in Sicherheit?" Die deutschen Medien berichteten darüber, dass Touristen ihre Hotels verlassen mussten. Ich fragte mich: Was ist mit den geflüchteten Menschen, die im Wald leben müssen?
Nein, ich kann nicht gnädig sein mit dieser krisenhaften Welt. – Ich gerate immer wieder in Furcht und Zorn, wie das so zugehen kann und wie das alles ausgehen wird.
Gnade fängt auf
Was mir hilft:
Wenn ich wieder in Ungnade verfalle.
Wenn ich ungnädig bin mit mir, mit meinem Gegenüber, mit den Zuständen dieser Welt.
Was mir dann hilft:
Mich wegdenken von meiner eigenen dürftigen gnadenlosen Gnädigkeit, die wir Menschen uns so zusammenschustern, –- mich für die Gnade Gottes interessieren.
Diese Gnade heißt für mich: Wir sind von Gott geliebte Geschöpfe. Die Menschen auf Kos erst recht. Wir alle sind von Gott geliebte Geschöpfe . Diese Gemeinsamkeit kann uns bei allem, was zwischen uns steht, niemand nehmen, nicht mal wir selbst.
Ich glaube:
Ja Gottes Gnade befreit und entlastet. UND schafft in uns die Sehnsucht nach Gerechtigkeit.
Gottes Gnade schenkt uns die Freiheit, ungnädig zu sein.
Dass wir das Wort erheben, wenn wir nicht gnädig sein können.
Denn ein gnädiger / Luthers gnädiger Gott lädt nicht zum Wegsehen ein!
Ist mir egal, ist keine Option angesichts der Not auf dieser Welt.
Manches will ich nicht wieder einfach gut machen. Manches kann ich nicht schnell heil machen. Ich kann und will einiges nicht verzeihen.
Mir hilft Gottes Gnade, meine eigene Begrenztheit auszuhalten.
Gottes Gnade fängt auf, was ich nicht kontrollieren kann.
In Spannung leben
Mit dieser Spannung lebe ich.
Gnade von Gott erfahren, ungnädig mit dieser Welt sein.
Ich bete darum:
Möge Gottes Gnade mich so tief berühren, dass ich voller Klarheit und Liebe bin.
Dass ich spüre, was heilig ist.
Und dafür einstehe.
Amen.